Mittwoch, 25. Oktober 2017

Der schreitende Jüngling

In der Münchener Glyptothek steht, gleich zu Beginn, ein schreitender Jüngling, ein Kuros aus archaischer Zeit. Wie ich, vor über zehn Jahren  die Glyptothek zum bisher letzten Mal besucht habe, habe ich weniger über die hellenistischen Statuen gestaunt, die in ihren perfekt ausgeführten Bewegungen erstarrt erscheinen, so daß das größte Wunder ist, daß diese Figuren ausgerechnet aus Stein gefertigt sind, der jeder Bewegung feindlich und starr gegenübersteht. Mein größtes Erstaunen galt dem Kuros, einer den hellenistischen Figuren gegenüber starr und kollossalisch wirkenden Figur. Sie erinnert stark an ihre völlig starr stehenden ägyptischen und orientalischen Vorbilder. Lediglich der linke Fuß ist nach vorne gesetzt, der restliche Körper ist unbewegt und aufrecht: "Beweglichkeit, nicht Bewegtheit wird hier zum Ausdruck gebracht." Also nur die schiere Möglichkeit der Bewegung. Dennoch schien mir diese Figur, im Gegensatz zu allen anderen in unausgesetzter Bewegung zu sein. Ich stand vor ihr und hatte das körperliche Bedürfnis zur Seite zu gehen, um den Kuros an mir vorbeischreiten zu lassen. Denn das war seine Bewegung: ein stetes Vorwärtsschreiten. Natürlich war an ein räumliches Vorwärtskommen des Kuros nicht zu denken, dennoch war er in Bewegung. Wenn aber nicht durch den Raum, durch was dann? Bleibt eigentlich nur noch die Zeit, durch die er sich ja tatsächlich hindurchbewegt, wenn es auch mehr ein hinduchrchbewegt werden ist, da eine Steinplastik immer passiv bleiben muß, egal wie viel Bewegtheit in ihr sein mag. Aber diese Fortbewegung war eine aktive, von der Figur ausgehende.
Nun bin ich der Lösung wohl sehr nahe gekommen. Oswald Spengler schreibt in "Der Untergang des Abendlandes" (Ausgabe von 1963, S. 130): "... die Griechen [haben] in jeder ihrer Statuen ein Bild der reinen Gegenwart." Bei dem Weltbild der Griechen, das keine Vergangenheit, nur den Mythos kannte und die Zukunft mit der Gegenwart verschmolzen hat, da es alles zu abstrakte, über das unmittelbar sinnlich greifbare Hinausgehende vermied, verwundert es kaum, das auch die Kunst sich dem rein Gegenwärtigen zuwandte. Das heißt, daß ihre Kunst nur in der Gegenwart existierte, kein Vergehen der Zeit kannte, immer reine Gegenwart war.
Gilt dies, so gilt für den Münchener Kuros folgendes: Auch er ist ein Kunstwerk der reinen Gegenwart und das ist es, was er durchschreitet, in dem er sich vorwärts bewegt: Die Gegenwart. Erschaffen wurde er um 650 v. Chr. in einem einmaligen Augenblick der Gegenwart und seither schreitet er unbeirrt von einem Augenblick der Gegenwart zum nächsten weiter und ist in jedem einzelnen Augenblick der Gegenwart von damals bis auf den heutigen Tag und weit über diesen hinaus rein gegenwärtig. Die Gegenwart ist immer nur ein Moment, die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft und schreitet mit dem immer nur die Gegenwart, nie aber Vergangenheit oder Zukunft direkt wahrnehmenden Menschen unaufhaltsam durch die Geschichte. Gegenwart ist immer, jeder einzelne Moment ist Gegenwart. Und unbemerkt von den meisten Menschen schreitet damit auch der Jüngling aus Stein durch die Gegenwart. Wird nie Vergangenheit, nie Zukunft. Bleibt der Absicht seines Schöpfers treu. Und diese Bewegung ist wahrnehmbar. Nicht mit einem Zollstock, nicht mit einer Stoppuhr, ja überhaupt nicht mit einer Uhr, denn Gegenwart ist in jeder einzelnen Sekunde und damit ist sie ein stets voranschreitender Stillstand, der nicht messbar ist. Ein stets voranschreitender Stillstand wie der Kuros.

Sonntag, 15. Oktober 2017

Gottfried Benn: Nur zwei Dinge

Durch so viel Form geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage - 
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere 
und das gezeichnete Ich.
 

Montag, 9. Oktober 2017

Treffen sich zwei Enten.
Sagt die Eine zur Anderen: Jetzt laß mal nicht so den Kopf hängen! Du bist eine richtig tolle Ente! 
Sagt die Andere zur Einen: Aber ich fühl mich so inadäquak.

Komm über die grüne Treppe!

Zürich

Freitag, 6. Oktober 2017

Die Stadt

Zug
ZG
Ich warte auf's Tram und lese Aristoteles "Nikomachische Ethik", da quatscht mich ein baumlanger Schwarzer in perfektem Schwiezerdütsch "um es paar Münz" an. Während ich sie ihm rauskrame, er hat ja nett gefragt, sagt er, mit Blick auf mein Buch: "Also ich les ja nie. Nur, wenn sie mich mal wieder eingebuchtet haben." Sprichts und springt mit seinen "Münz" davon. War das jetzt einer von diesen sagenhaften interessanten und spannenden Menschen, die alle immer kennenlernen, nur ich nie? Oder sind meine Zweifel irgendwie berechtigt?